Keine Zukunft ohne Geschichte
Veröffentlicht am: 02. Mai 2018
Forstleute müssen in ihrer Arbeit häufig mehr als 100 Jahre in die Zukunft denken, Archäologen und Historiker befassen sich dagegen vor allem mit der Vergangenheit. Zwei Tage lang haben rund 100 Expertinnen und Experten dieser Wissenschaftsdisziplinen im Rahmen einer gemeinsamen Veranstaltung an der Hochschule für Forstwirtschaft Rottenburg (HFR) ihr Wissen zum Thema „Wald- und Forstwirtschaft“ und zum Verhältnis zwischen den (waldnutzenden) Menschen und (ihren) Wäldern zusammengebracht, damit teilweise neue Erfahrungen gemacht und erheblichen gemeinsamen Forschungsbedarf identifiziert.
M.A. Karlheinz Geppert, Prof. Dr. Dorothee Kimmich, Prof. Dr. Dr. h.c. Bastian Kaiser, Prof. Dr. Sigrid Hirbodian, S.H. Maximilian Erbgraf zu Königsegg-Aulendorf
Das Institut für geschichtliche Landeskunde der Universität Tübingen, der Sülchgauer Altertumsverein, die Stadt Rottenburg am Neckar und die Hochschule für Forstwirtschaft Rottenburg (HFR) haben Ende April Fachleute und interessierte Laien zu einem zweitägigen Symposium an den Schadenweilerhof eingeladen, dessen Titel „Mensch und Wald – Lebensgrundlage zwischen Furcht und Faszination“ lautete. Diese gemeinsame Veranstaltung basierte auf der Kooperation der Universität Tübingen mit der HFR sowie auf der regelmäßigen und engen Zusammenarbeit des Sülchgauer Altertumsverein mit den Archäologen und Historikern der Universität.
Wer schon immer wissen wollte, welchen besonderen Wert eine interdisziplinäre Zusammenarbeit haben kann, konnte dies in diesem Symposium eindrucksvoll erleben: Hier haben sich nicht nur verschiedene Wissenschaftsdisziplinen zu ihren jeweiligen Sichtweisen und Erkenntnissen über die Waldwirtschaft und deren Entwicklung ausgetauscht, sondern es trafen auch Grundlagenforscher auf Vertreter der anwendungsorientierten Forschung, Theoretiker auf Praktiker, hauptberufliche auf passionierte Expertinnen und Experten, lokale Kenner und Erfahrungen auf überregionale und internationale Hinweise sowie private Waldbesitzer auf Vertreter des kommunalen und des staatlichen Waldbesitzes. Es stellte sich heraus, dass jede Gruppe von den anderen Teilnehmenden lernen oder sich an deren Ansichten und Überzeugungen „reiben“ konnte. Die zehn Fachvorträge von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der beteiligten Hochschulen, des Hauptstaatsarchivs in Stuttgart, der Universität Bamberg und des Alemannischen Instituts Freiburg und des freiberuflichen Bauforscher Tilmann Marstaller wurden engagiert diskutiert, in zahlreichen Wortmeldungen ergänzt und hinsichtlich ihrer Aussagen und Widersprüche durchaus kontrovers erörtert. Flankiert wurden sie durch eine Podiumsdiskussion und eine abschließende Exkursion in den Stadtwald Rottenburg (Rammert).
Daraus sind neue Einsichten und Fragen hervorgegangen, denen sich die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zukünftig widmen möchten – wenn möglich auch in gemeinsamen Forschungsvorhaben und studentischen Abschlussarbeiten.
Besonders deutlich wurde den rund 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Symposiums, dass die geschichtlichen Erkenntnisse von den beteiligten Fachdisziplinen teilweise unterschiedlich interpretiert werden und dass noch immer viele Ereignisse und Entwicklungen der Waldgeschichte nicht abschließend erklärt sind. Dies ist insofern bedauerlich, als man auch in der Forstwirtschaft aus Erfahrungen und „Fehlern“ der Vergangenheit lernen und wichtige Schlüsse für zukunftsweisende Entscheidungen ziehen kann – jedoch nur dann, wenn diese hinreichend sicher interpretiert sind. Die festgestellten Defizite haben zum Teil damit zu tun, dass die gesicherten Informations- und Datenlagen zu den Lebensbedingungen der sozialen Bevölkerungsgruppen und Stände sehr asymmetrisch sind: Während man über die Vorteile, die Sorgen, das Wissen und die Entscheidungen der Landesherren und Klöster aus schriftlichen Überlieferungen relativ viel weiß – auch über die herrschaftliche Jagd und ihre Folgen, ist über die Lebensumstände der armen Landbevölkerung nur wenig schriftlich überliefert und gesichert.
Sehr sicher und weit zurückreichend ist auch die (interne) Dokumentation der Forstwirtschaft in Deutschland. Sie kann den Historikern wichtige Hinweise für ein noch besseres Verständnis der Waldwirtschaft bieten. Eine engere Zusammenarbeit der Wissenschaftsdisziplinen könnte deshalb helfen, Wissenslücken zu schließen und Vermutungen abzusichern.
Ebenso bereichernd waren die Beiträge aus den Literaturwissenschaften, die in einem öffentlichen Abendvortrag am ersten Symposientag sowie in einer abschließenden Podiumsdiskussion zusätzliche Blickwinkel einer weiteren Disziplin eröffneten. Schließlich spielen Bäume, der Wald, das Holz, andere Waldprodukte und die im Wald Tätigen in vielen literarischen Gattungen - vom Lied, über Märchen, Sagen und Erzählungen, bis hin zu Romanen und populärwissenschaftlichen Sachbüchern – eine zentrale Rolle.
„Es war sehr beeindruckend, aus erster Hand zu erfahren, welchen Blick andere Wissenschaftsdisziplinen auf unser Spezialgebiet die Forstwirtschaft haben“, stellt HFR-Rektor Bastian Kaiser fest, „Und umgekehrt dürften die Archäologen und Historiker überrascht gewesen sein, wie wichtig die Waldgeschichte für die täglichen Zukunftsentscheidungen der Forstwirtschaft ist.“
Vor diesem Hintergrund ist es umso bedauerlicher, dass die HFR über keine Professur für Forstgeschichte verfügt. Dies hat („historische“) hochschulpolitische Gründe, weil diese Wissenschaftsdisziplin früher nicht als praxisrelevant erachtet wurde. Traditionell wird dieses Fachgebiet an der HFR deshalb eher „nebenberuflich“ und als freiwilliges Zusatzfach vertreten.
Außer einer geplanten gemeinsamen Veröffentlichung eines Tagungsbandes zu diesem Symposium haben sich die Beteiligten deshalb fest vorgenommen, enger und öfter zusammenzuarbeiten. Die Vorteile einer solchen Kooperation haben sich deutlich gezeigt.